«Die Schweizer können jeden schlagen – sogar Brasilien im Finale»
Nachdem sie die Gruppenphase überstanden haben, sind die Experten mit ihrer bisherigen Leistung zufrieden und zuversichtlich für das große Spiel am Dienstagabend.

Sie sind füreinander da: Nach dem Spiel gegen Serbien feiern die Schweizer ausgelassen den Einzug ins Achtelfinale.
Foto: Laurent Gillieron
Kathrin Lehmann: „Emotionale Momente sind Momente der Ehrlichkeit“
«Mir gefällt das freche Selbstbewusstsein, mit dem Schweizer Spieler an dieser WM auftreten. Wenn ich sie so sehe, bin ich mir sicher, dass sie sich intern ein viel höheres Ziel gesetzt haben als das Achtelfinale. Wie irritiert Granit Xhaka, Yann Sommer und Manuel Akanji nach dem 0:1 gegen Brasilien waren: Für mich ist es ein kleines verstecktes Zeichen, dass sie wissen, wie viel sie bei dieser WM noch können.
Die Spieler sind auch füreinander da. Zwei Szenen erregten meine Aufmerksamkeit besonders. Erstens, wie die anderen Schweizer mit Breel Embolo nach dem Tor gegen Kamerun jubelten. Es zeigte, dass sie in diesem Spiel gegen sein Mutterland wirklich auf ihn und seine besondere Situation geachtet haben.
Zweitens, wie die Mitspieler liefen, als Xhaka in der Nachspielzeit gegen Serbien gefoult und gegen die Werbebande geschoben wurde. Die anderen verteidigten ihn.
Hochemotionale Momente sind so bewegend, weil es Momente der Ehrlichkeit sind. Sie können in diesen beiden sehen, dass sich die Spieler in diesem Team wirklich gegenseitig unterstützen. Das ist das größte Kapital, das ein Team haben kann.
Ich habe hier bei der WM viele andere Mannschaften gesehen. Im Vergleich dazu kann ich sagen, dass das Schweizer Team bei diesem Turnier zu den besten gehört. Und sie schaffen es immer, zu punkten. So schlägt man dieses Team nicht. Auch das spricht für die Schweiz gegen Portugal.
Spricht gegen sie: Cristiano Ronaldo. Vielleicht ist er nicht mehr in Bestform. Aber es ist mental extrem anstrengend, gegen jemanden wie ihn zu spielen. Du musst immer Disziplin bewahren, weil er das Spiel in einem Moment entscheiden kann.
Für mich stehen die Chancen auf einen Schweizer Einzug ins Viertelfinale 50-50.»
Kathrin Lehmann ist ehemalige Torhüterin der Schweizer Nationalmannschaft und WM-Spezialistin des SRF.
Marco Streller: „Zum fünften Mal im Achtelfinale. Zum fünften Mal!”
„Die Schweizer haben bisher geliefert. Sie mussten das Auftaktspiel gegen Kamerun gewinnen, ihre Leistung war nicht gut, aber sie gewannen mit 1: 0. Gegen Brasilien war die Ausrichtung anders. Sie sagten sich: Mal sehen, wie weit wir diese unglaubliche Offensive mit einer defensiven Grundhaltung kontrollieren können. Bis auf ein, zwei Situationen lief alles gut.
Dann Serbien, ein sehr schwieriges Spiel, mit dieser Geschichte, mit Emotionen. Die Führer arbeiteten, Xhaka, Akanji, Rodriguez, Shaqiri. Und was wir gesehen haben, ist auch eine riesige Solidarität in diesem Team. Die Spieler unterstützen sich gegenseitig, auch in emotionalen Momenten, aber die Hierarchie ist klar. Alles hat mit der Arbeit von Murat Yakin zu tun. Ich bin beeindruckt von seiner taktischen Flexibilität, er hat ein souveränes Auftreten und das färbt auf die Mannschaft ab.
Die Schweiz steht zum fünften Mal in Folge im Achtelfinale. Zum fünften Mal! Das muss man sich vorstellen. Japan sei eine Überraschung, sagen sie, ebenso Südkorea. Aber für die Schweiz gilt das Überstehen der Gruppenphase als normal. Das sagt alles über ihre Entwicklung aus.
Gegen Portugal stehen die Chancen 50 zu 50. Die Portugiesen sind so talentiert, dass sie Weltmeister werden könnten. Ich sage jetzt etwas, worüber ich vor zwei Jahren noch gelacht hätte: Ich glaube, sie wären ohne Cristiano Ronaldo stärker als mit ihm. Ihm fehlt das Tempo, er hat nicht mehr den gleichen Einfluss auf die Mannschaft wie Messi. Er ist bereits 37 Jahre alt. Allerdings ist alles auf ihn ausgerichtet.
Und die Schweizer? Sie wissen aus dem Spiel gegen Brasilien, dass sie mit zwei oder drei Anpassungen jeden schlagen können – sogar Brasilien in einem Finale…”
Marco Streller ist Botschafter des Vereins FCB und spielte von 2003 bis 2011 in der Nationalmannschaft.
René Weiler: „Ich sehe in der Schweiz keine Weltklassespieler“
„In der Schweiz reden wir nur über die großen Ligen und die großen Spieler. Wir merken gar nicht, dass in Afrika oder Asien richtig guter Fußball gespielt wird. Als Coach habe ich auf diesen Kontinenten gearbeitet. Und deshalb finde ich es auch aussergewöhnlich, dass sich die Schweiz nicht nur für diese WM qualifiziert hat, sondern auch noch unter den letzten sechzehn Mannschaften steht. In dieser schwierigen Gruppe wäre auch ein 3. oder 4. Platz möglich gewesen.
Ich sehe in der Schweiz keine Weltklassespieler, der Begriff Weltklasse wird mir sowieso zu schnell gebraucht. Aber die Schweiz hat einige sehr starke Spieler und auch viele gute Spieler, eine homogene Mannschaft. Und genau das braucht man neben dem Willen und der Gier, um Großes zu leisten. Ich habe noch keine Mannschaft gesehen, die bei dieser WM herausragt. Teamgeist und Kollektiv sind von grosser Bedeutung, und die Schweiz hat beides.
Vor dem Turnier drückten Granit Xhaka und andere Spieler ihre Ziele mit großem Mut und Optimismus aus. Und ich sage: Diese Ziele sind nicht unrealistisch. Ich sehe jedenfalls keinen Favoriten gegen Portugal. Und wenn die Schweiz wirklich gewinnt und ihr Selbstvertrauen zurückgewinnt, könnte die Reise weit gehen.”
René Weiler ist seit 2002 Trainer, zuletzt sechs Monate bei Kashima in Japan.
Rolf Fringer: «Granit Xhaka zeigt, wie wenig er die Folgen fürchtet»
„Vor dem Turnier habe ich gesagt: Die Schweiz ist in einer schwierigen Gruppe, aber wenn sie weiterkommt, gibt es keine Grenzen mehr. Dass alles für sie möglich ist. Wenn nicht jetzt, wann dann?
Jetzt sage ich: Der Eindruck ist positiv, wie ich erwartet und gehofft habe. Das bedeutet nicht, dass ich die Ergebnisse als selbstverständlich ansehe. Sie sind nicht. Da muss man die Deutschen nur einmal fragen. Doch die Schweiz meisterte die Aufgabe mit Bravour. Vor allem gegen Kamerun und Serbien hinterließ sie einen sehr reifen und erfahrenen Eindruck und erzielte unter besonderen Umständen die Ergebnisse, die sie erreichen musste, um weiterzukommen.
Die Spieler sind in Bestform, die Spieler haben ein unglaublich hohes Selbstvertrauen und Selbstverständnis, sie sind als Team sehr stabil, sie haben ein gesundes Mindset. Vom Tor über die Abwehr bis zum Mittelfeld sind sie absolute Weltklasse. Das Fundament ist sehr stabil.

Der Boss und sein Turm: Murat Yakin und Manuel Akanji mögen sich sehr.
Foto: Schlüsselstein
In der Mitte befindet sich der Xhaka-Granit. Die Art und Weise, wie er in seiner Karriere gekämpft hat, hat Signalwirkung. Wenn er so emotional reagiert wie gegen Serbien, muss man das akzeptieren. Wir sind nicht in der Kirche. Und dass er sich wehren kann, zeigt auch, wie wenig er die Konsequenzen fürchtet. Man kann von einem Spieler keine Persönlichkeit verlangen und ihn dann kritisieren, wenn er beweist, dass er sie hat. Xhaka zerbricht nicht unter Druck.
Der erste Schritt ist also getan. Ich hoffe, dass die Schweiz in einem möglichen Viertelfinale Portugal und auch Spanien schlagen wird. Dafür muss sie eine gute Nacht haben und auch einen Stürmer, der was reißen kann und nicht immer Xherdan Shaqiri heißt. Aber so, wie sie sich verhält, ist wirklich alles möglich.“
Rolf Fringer war von 1996 bis 1997 Schweizer Nationaltrainer und ist heute Blues-Spezialist.
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