Cindy Shermans Halloween auf Schloss Altdöbern

Sie flog auf ihrem Besen davon, die alte Hexe mit der riesigen, krummen Warzennase und dem exorbitanten Kinn. Sie startete in New York und landete auf Schloss Altdöbern. Da ist sie nun, die Hexe (englisch) bzw hodojta (Hoher Sorbio). Wie ein schauerliches Porträt der Schlossherrin, in majestätischem Hexenkopftuch, mit seltsamen Ornamenten bestickt, mit Zaubertrank und Hexenkugel auf einer Staffelei im Barockschloss der gleichnamigen Stadt im Oberspreewald/Lausitz. Das ist direkt südlich von Brandenburg. Land Serbien. In Lower Sorbio heißt der Ort Stara Darbnja.

Und Hexen sind dort vertraut. Wegen der Legende, wegen des makaber-lustigen Kultes: Jedes Jahr am 30. April, seit Menschengedenken, seit der Völkerwanderung im 6. Jahrhundert, wie man so sagt, als sich die Slawen zwischen Ostsee und Erzgebirge ansiedelten , die „Hexenverbrennung“ findet stattdessen in den Dörfern statt“ (chodojtypalene). Bei Einbruch der Dunkelheit werden Unkrauthaufen verbrannt, auf denen Hexen befestigt sind. Der Brauch ist Teil der Tradition, den Winter zu vertreiben und Schäden an Mensch, Tier und Flora zu verhindern.

Hexen im Schloss Altdöbern:

Roland Horn/Cindy Sherman/Privatsammlung/Sprüth Magers ,

Hexen auf Schloss Altdöbern: „Untitled #151“ von Cindy Sherman (Witch), 1985

Märchen, Sagen, groteske Geschichten – das ist auch die künstlerische Welt der in New York lebenden Fotografin Cindy Sherman, die aus dem US-Bundesstaat New Jersey stammt und eine weltberühmte Fotografin ist. Der 68-jährige Documenta- und Biennale-Künstler, der 2016 vom japanischen Kaiser mit dem Praemium Imperiale, dem sogenannten Nobelpreis für Kunst, geehrt wurde, war unter dem bemerkenswerten Namen „Rohkunstbau“ zum diesjährigen 27. Internationalen Kunstfestival eingeladen. . Das Festival wurde einst von Studenten im Spreewald in einer Rohbauhalle der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) gegründet, die nach der deutschen Wiedervereinigung aufgelöst wurde.

Schloss Altdöbern ist nun bis zum 30. Oktober immer am Wochenende auch Kulisse für das, was die jüngere Kunstgeschichte in Bezug auf Cindy Shermans Fotoserie als „den Körper als Ort des Grauens“ beschreibt. Die Fotografin, immer noch eine schöne Frau, reiste nicht in ihrer wahren Form nach Altdöbern, sondern als Hexe auf einem großformatigen Foto und auf einer klebrigen Staffelei, die an die Hühnerkeulen von Baba Jagas Haus aus slawischen Märchen erinnert.

Es gebe bereits Bilder von ihr als Kind, verkleidet als alte Frau, sagte sie den Zeitungen. „Ich wollte immer anders sein als andere Mädchen, die Prinzessinnen oder Feen oder hübsche Hexen sein wollten. Also war ich immer die hässliche Hexe oder das Monster.“ Für ihre Fotos präsentiert sich die New Yorkerin mit aufwändigen Kostümen, ausgefallenen Requisiten und auffälligem Make-up: „Ich bin keine dieser Figuren“, sagt sie, „du bist alles andere als ich.“ Und doch, unter dieser Fantasie ist sie das. Die hässliche, böse alte Frau, die in Grimms Märchen versucht, ihre Kinder Hänsel und Gretel in den Ofen zu schieben und sie dann zu essen, hat die Arme und Hände einer sehr jungen Frau, der Betrachter ist verwirrt .

Sherman beharrt förmlich auf dem weiblichen Vorbild, wirft Identitätsfragen auf, spielt auf Groteske, Gewalt und Sexualität an. Aus der Tochter eines Professors und eines Ingenieurs wurde Ende der 1970er-Jahre eine Meisterin der inszenierten Fotografie und eine emanzipierte Weltklasse-Künstlerin: Schau, ich bin’s. Und ich bin es nicht! Proteismus ist in der Psychiatrie die Zwangsneurose, die in immer neue Rollen schlüpft. Bei Sherman wird es zur Kunst. Andy Warhol sagte einmal, dass sie gut genug wäre, um eine echte Schauspielerin zu werden. Ihm fiel auf, wie sich die junge Fotografin als Klischee der Weiblichkeit präsentierte – künstlich genug, um echt zu wirken, überzeugend genug, um gesellschaftskritisch zu sein.

Das Rollenspektrum scheint unerschöpflich, umgesetzt in Karikatur, Tarnung und Identitätsfindung. Was heute lange als ikonisch galt, wurde noch vor 30 Jahren von Menschen stark angefeindet, die sich von diesem „Apologeten des Hässlichen“ provoziert fühlten. “Blasphemie!” Sie schrien vor Shermans „Selbstporträt“ einer „Madonna Lactans“. Offen sie selbst, mit Locken aus synthetischem Haar und wässriger Formel, die Plastik über ihre Brust spritzt – Sherman thront in ihrem marineblauen Mantel und starrt mit eisigem Blick ins Leere. Sicherlich nicht als biblische Mutter.

Ist es da drüben.  Er – derselbe in Gestalt von Cindy Sherman: „Untitled #618“ (Detail), 2019, Print in Sublimation.

Cindy Sherman/Galerie Hauser & Wirth Zürich/Galerie Sprüth Magers Berlin

Ist es da drüben. Er – derselbe in Gestalt von Cindy Sherman: „Untitled #618“ (Detail), 2019, Print in Sublimation.

Solche aufwändigen, aufwendig getarnten Identitätsspiele, Selbstversuche vor dramatischen Landschaften und bedecktem Himmel brachten Sherman immer mehr Akzeptanz, ja sogar Ruhm. In der Zwischenzeit hat sie sich intensiv mit einem wichtigen Thema unserer Zeit beschäftigt: Genderfragen. Wer bin ich? Diese Frage scheint sich die Selbstdarstellerin zu stellen, die auf den raffiniert zusammengestellten Fotos des Paares sowohl die weibliche als auch die männliche Rolle abgibt. Einige der rätselhaften Bilder, deren Gesichter einen anstarren, wurden kürzlich in der Galerie Sprüth Magers in Berlin ausgestellt. Auch Caspar David Friedrichs romantische Landschaft „Untitled #618“ aus dem Jahr 2019. Davor dieser Cindy Sherman aussehende Mann und diese Frau, sie mit kurzen Haaren, er mit langen Haaren, in Pullovern wie aus dem hohen Norden.

Sherman hat es immer wieder provokativ in die Boxen gesellschaftlicher Rollenspiele, altmeisterlicher und romantischer Gemälde, der Film- und Werbebranche geschafft. Die Frage nach der menschlichen Geschlechtsidentität als soziale Kategorie, in Bezug auf Selbstwahrnehmung, Selbstwertgefühl und Rollenverhalten, gibt dieser Maskerade immer wieder Meister; sie bedient sich kultureller und gesellschaftlicher Klischees: für Wirklichkeit und Schein. Engel oder Hexe.

Schloss Altdöbern, Oberspreewald/Lausitz. Kunstfest „Rohkunstbau 27“, Sa+So, 12-18 Uhr, bis 30.10.

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