DDen Grundriss einer Stadt als immer wieder neu beschriebenes Palimpsest zu lesen, ist bei antiken Städten besonders naheliegend: Elefsina im Westen Attikas hat zwar etwas mehr als 25.000 Einwohner, kann aber auf eine 3.000-jährige Geschichte zurückblicken: Das ist in der kleinen Stadt, die im Altgriechischen Eleusis hieß, überall zu spüren ist, erfolgt der Umgang mit seinen Reliquien mit einer gewissen Gleichgültigkeit, die ihre Wurzeln in der Sorglosigkeit ebenso haben mag wie im Bewusstsein der eigenen Beharrlichkeit.
Neben Timisoara in Rumänien und Veszprém in Ungarn ist Elefsina in diesem Jahr als vierte griechische Stadt Kulturhauptstadt Europas. Und als kleinste Kommune, die diesen Ehrentitel jemals geführt hat. Das Kulturprogramm mit dem Titel “Transitional Mysteries” ist konzeptionell verwandt mit den Eleusinischen Mysterien, einem der wichtigsten Kulte des antiken Griechenlands, dessen Mittelpunkt der bedeutende Demeter-Tempel ist, der von Ictinus, dem Architekten des Parthenon in Athen, entworfen wurde, von dem nur ein wenige Überreste überlebt.
Inhaltlich bezieht sich der Titel konsequent auf die jüngste Schicht verfallender Gebäude, die die Stadt am Saronischen Golf prägen: die der Industrie. In Sichtweite der antiken Tempelanlage ist zwar noch die größte Ölraffinerie Griechenlands in Betrieb, doch die Seifen-, Schnaps-, Stahl- und Zementfabriken sind längst geschlossen. Eine große Anzahl zerstörter Fabrikgebäude ist erhalten geblieben, aber auch rostige verlassene Schiffe, die in der Elefsina-Bucht vor Anker liegen, prägen die Skyline der Stadt.
Im Hafen von Elefsina. Verlassene Schiffe in der Bucht gehören zum Stadtbild.
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Bild: Reuters
Die ehemalige Farbpigmentfabrik der Firma Iris aus dem Jahr 1925 wird zum Hauptstandort des Jahres der Kulturhauptstadt Europas umgebaut: Juan Esteban Sandoval aus Kolumbien wird hier eine Terrakotta-Armee aufstellen. Für jeden Stadtarbeiter wird ein Tonhelm handgefertigt, in den Symbole oder Wörter eingraviert sind, die sich auf diese Person beziehen. Im Mai werden dann alle 3.000 Helme für einige Zeit in der denkmalgeschützten ehemaligen Iris-Fabrik ausgestellt und dann als Souvenir an die Arbeiter verteilt. Dieses „kollektive Porträt“, wie Sandoval es nennt, soll „ein ephemeres Denkmal für die Arbeiter“ sein.
Aufbruchsstimmung schaffen
Elefsina verzichtete auf teure Prestigebauten, die nach dem Kulturjahr nicht mehr wirklich nutzbar wären. Als Warnung wurden die bis heute ungenutzten Olympiabauten im benachbarten Athen genommen. Stattdessen setzt Elefsina ganz auf die „Schönheit“ bestehender Gebäude und Plätze – und trifft damit den Zeitgeist. Das ehemalige Rathaus von 1928 wurde zu einem Kulturraum umgewidmet, ebenso wie die ehemalige Kegelbahn am Wasser. Und in der in den 1930er-Jahren erbauten noblen Villa des Besitzers der Zementfirma Leonidas Kanellopoulos, die umfassend renoviert wurde und heute als Fotomuseum der Stadt dient, wurde vorab eine Ausstellung präsentiert, in der 24 Fotografen von Vassilis Gerontakos ihre Porträts porträtierten Stadt.
Mit einer Statue ehrt Elefsina Aischylos, den berühmtesten Sohn der Stadt.
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Bild: AKG
Gerontakos, Kurator der Ausstellung, wollte die Verluste der jüngeren Vergangenheit zeigen. Im 20. Jahrhundert sei Elefesina „ein Opfer rücksichtsloser industrieller Entwicklung und materieller Ausbeutung“ gewesen, sagt er. Die Erkenntnis, dass „auf dem Altar des industriellen Minotaurus schon genug Opfer gebracht wurden“, wie er es ausdrückt, spricht für seine Fotos. Die von Industrie geprägte Umgebung um Elefsina ist für ihn wie ein „verwundeter Gott“. Gleichzeitig will er Aufbruchsstimmung schaffen, indem er Elefsina als „Ort der Ankunft, Präsenz und Offenbarung“ erlebbar macht.
Wie die ehemaligen Industriepavillons wird auch der ungenutzte Bahnhof für kulturelle Veranstaltungen genutzt. Der künstlerische Leiter des Kulturhauptstadtjahres, der Schauspieler Michael Marmarinos, will Tanz-Theater-Shows an Orte bringen, die von der deindustrialisierten und autobegeisterten Gesellschaft verlassen wurden. Solche Aneignungen können den Wert verlassener Gebäude steigern, sind aber selten nachhaltig. Marmarinos lässt sich nicht entmutigen und redet viel von den „immateriellen“ Effekten, die das Kulturhauptstadtjahr überstehen müssen.
Was – trotz aller Multifunktionalität – eine kleine verarmte Stadt wie Elefsina auf Dauer mit mehreren riesigen Kulturhallen machen soll, bleibt ein Geheimnis. Die Festivalisierung der Stadtentwicklung hat bei kleinen Budgets ihre Grenzen. Die „Stadt als Ausstellung“, wie einer der Programmpunkte betitelt ist, kann jedoch ein guter Ausgangspunkt sein, um die Gestaltung des Stadtraums und der Außenausstattung zu erweitern.
Die Stadt, deren Name „Ankunft“ bedeutet, konnte ihrer Rolle als historisches Paradies gerecht werden: Der industrielle Aufschwung zog im 19. Jahrhundert und erneut nach der „Smyrna-Katastrophe“ viele Familien aus Kleinasien an. Wenn das Kulturhauptstadtjahr am 4. Februar offiziell beginnt, erwarten die Initiatoren eine Welle kulturinteressierter Newcomer.