Die Stars sind woanders, die grossen Filme auch: Locarno ist seit einigen Jahren nicht mehr auf Sendung. Aber das Festival sah noch nie so alt aus wie zu seinem 75. Jubiläum.

Wenig Licht, viel Schatten: Das Filmfestival von Locarno braucht wieder mehr Glamour.
Die Welt ändert sich. In Locarno ändert sich nichts. Ja, neben dem Grotto gibt es jetzt diesen Fischsalat aus Hawaii namens Poké Bowl, und in einem der Cafés auf der Piazza Grande wird, wie bald überall, statt Kaffee „Specialty Coffee“ gekocht. Aber in der Regel kostet ein Espresso zweifünfzig Franken, und die Welt ist in Ordnung. Wie die Stadt lehnt auch ihr Filmfestival Übertreibungen, geheuchelte Aufregung, Lärm ab. Es ist wirklich gut, es soll so bleiben.
Allerdings muss sich etwas ändern. Denn das Filmfestival von Locarno feierte dieses Jahr seine 75. Ausgabe, und es sah alt aus. Seit einigen Jahren gibt er kaum noch einen Akzent, international spielt er nicht mehr die Rolle, in der er sich sieht. Aufgrund seiner Geschichte und definiert als “A-Festival” mit dem (ziemlich bedeutungslosen) Siegel einer Vereinigung von Filmproduzenten, rangiert Locarno als wichtigstes Festival direkt hinter den wichtigsten, also hinter Cannes, Venedig, Toronto und den Berlinale. Der Glanz der Vergangenheit ist längst verblasst.
Nach dem Risotto fing es schlecht an
Es geht nicht nur um Filmstars, die Locarno meiden wie eine Katze alte Fische. Aber auch. So hat in Sarajevo gerade ein Filmfestival begonnen: Cannes-Gewinner Ruben Östlund ist da, der amerikanische Schauspieler Jesse Eisenberg (“The Social Network”) zeigt sein Regiedebüt, und auch der dänische Publikumsliebling Mads Mikkelsen kommt.
Was hat Sarajevo, was Locarno nicht hat? Umgekehrt: Locarno hat die Piazza Grande – wo sonst auf der Welt gibt es ein grösseres, schöneres Kino? Die besten Filmemacher müssten kämpfen, um ihre Filme hier zeigen zu können. Warum kann die Festivalleitung ihr Premium-Paket, die XXL-Leinwand, nicht berühmt machen? Sogar das Filmpodium in Zürich bekommt eine Tilda Swinton, Locarno muss sich mit Matt Dillon begnügen. Nichts gegen ihn. Aber er hat schon bessere Tage gesehen und war letztes Jahr auch Ehrengast beim Festival in Wien; wird es weitergegeben?
Das 75. Locarno Film Festival hatte mit «Bullet Train» einen schlechten Start. Sie können einen Actionfilm auf dem Platz planen. Aber nicht dies und nicht heute Abend. Wie wir hörten, wurde der brutale Mann nach Erhalt des Risottos wütend auf viele Menschen, sowohl auf die anwesenden Parlamentarier als auch auf Normalsterbliche. Einzige mögliche Erklärung für die Tropfen-Wahl: Hauptdarsteller Brad Pitt sollte kommen. Er war in Berlin für das Debüt in Deutschland, er würde nicht weit reisen müssen. Trotzdem ließ er sich nicht überzeugen.
San Sebastián statt Locarno
Festivalpräsident Marco Solari sagt, die Filme seien die Stars. Welcher Film hätte dieses Jahr ein Star werden sollen? Große Namen braucht man nicht unbedingt, auch mit Themen kann man punkten. Der Schweizer Dokumentarfilm über die Feministin Erica Jong, die das Recht der Frauen auf freie Sexualität einforderte, war sicherlich nicht perfekt. Aber darüber reden die Leute. Statt auf der Piazza haben die Festivalleiter den Film im „Fuori concorso“ aufbewahrt, was meint ihr?
Die Stars sind woanders, so wie viele Filme. Etwa im September in San Sebastian: Wenn Ulrich Seidl, der Chilene Sebastián Lelio („Gloria“) oder der koreanische Festival-Favorit Hong San-soo beschließen, ihre neuen Arbeiten in Bahia de La Concha statt am Lago Maggiore zu zeigen, um Giona A. Nazzaro Stoff zum Nachdenken.
Nazzaro, der künstlerische Leiter, ist ein mutiger Mann. Er hat auch eine gelbe Hose und eine Fliege mit Leopardenmuster getragen. Er zeigt im Wettbewerb mehr Mut als auf der Piazza Grande, letztes Jahr war die Auswahl frisch und vielfältig, dieses Jahr gab es die eine oder andere Kante, zum Beispiel den Fetischfilm „Piaffe“ der Israelin Ann Oren; auch das Debüt des Zürchers Valentin Merz, der eine homoerotische Verspieltheit zeigte (“De Noche los Gatos Son Pardos”). Doch ein paar schillernde Beiträge reichen nicht aus, die Welt hat sich verändert, neue Festivals fordern alte heraus. In Locarno haben Sie dank der Piazza Grande den schönsten Platz der Welt. Muss in Schönheit sterben?
überraschender Sieger
über · Goldener Leopard für Brasilien: Júlia Murats Spielfilm „Rule 34“ handelt von einer Jurastudentin, die sexuelle Fantasien im Internet auslebt, aber nicht nur darin. Die Jury um den Genfer Produzenten Michel Merkt sollte dem Film zwar nicht den Hauptpreis verleihen, doch ein Favorit kristallisierte sich in dem wie immer anspruchsvollen Wettbewerb nicht heraus. Drei Auszeichnungen als beste Regie, beste Hauptdarstellerin (Daniela Marín Navarro) und bester Hauptdarsteller (Reinaldo Amien Gutiérrez) gingen an „Tengo sueños energias“ von Valentina Maurel aus Costa Rica. Eine besondere Erwähnung erhielt der Zürcher Valentin Merz als Regiedebüt von „De Noche los Gatos Son Pardos“.