Leider wurde mein Flug gestrichen, die zuständige Fluggesellschaft schrieb mir beim Frühstück: „Hier können Sie umbuchen oder stornieren“.
„London, morgen“, wiederholte die nette Dame hinter der Theke eine halbe Stunde später. Ein paar Klicks und sie nannte mir den Preis des letzten buchbaren Eurostar-Tickets – First Class. Für einen kurzen Moment rechnete ich Gewinn und Verlust der gesamten Reise durch. „Werde ich“, antwortete ich etwas atemlos.
In Brüssel-Midi suchte ich gedankenverloren einen Platz im stickig-düsteren Wartesaal, als mein Blick auf ein Schild mit der Aufschrift „Business Premier Lounge“ fiel. Die automatische Tür öffnete sich und ließ mich in eine Parallelwelt mit Produkten der internationalen Presse, bequemen Liegen und einer stylischen Bar zurück. Es gab Walnüsse und Gemüsechips, eine exzellente Auswahl an gut gewürzten Rot- und Weißweinen, internationale Kaffeespezialitäten und jede erdenkliche Longdrink-Spirituose zum Selbermachen. Ein livrierter Kellner füllte den dafür vorgesehenen Kühlschrank mit gekühlten Gläsern auf und die Geschäftsleute um mich herum führten wichtige Gespräche mit ihren Smartphones.
An Bord des Zuges ging es ebenso gediegen weiter. Als draußen zuerst Belgien und dann Frankreich an uns vorbeizogen, überreichten uns die freundlichen Zugbegleiter erst ein antibakterielles Putztuch und dann ein Vier-Gänge-Menü. Vor mir auf dem Tablett standen neben Brot und Butter eine kalte Vorspeise, eine Käseplatte und ein Dessert, das heiße Hauptgericht wurde mit einer eigens dafür vorgesehenen Zange direkt an der vorgesehenen Stelle platziert. Der Coronation Salad, ein Salat aus Hühnchen und Mayonnaise, wurde, wie ich später erfuhr, anlässlich der Krönung von Elisabeth II. im Jahr 1953 erfunden. Nachhaltig gefangener Kabeljau, gefolgt von Hollandaise und Brokkoli, dann Black Bomber, ein Cheddar aus dem Norden und schließlich ein Stück New York Cheesecake, serviert mit Kaffee oder Tee.
Zu viele Proviant für eine RE-Reise
Die anwesenden Geschäftsleute blickten höflich, aber auch etwas gelangweilt erst auf ihre Tabletts und dann wieder auf ihre Tablets. „Nein, danke“, sagt der Herr mir schräg gegenüber ziemlich ärgerlich, bevor er sich wieder lautstark seinem Telefonat widmet.
Aus kurzer Distanz betrachtet – der Rückflug verlief ereignislos, aber auch ohne Mittagessen – ist ein Vier-Gänge-Menü auf einer knapp zweistündigen Reise ein kurioser Anachronismus. Auf einer vergleichsweise langen Fahrt – zum Beispiel mit dem RE1 von Köln nach Hamm (Westfalen) – würde wohl kaum jemand auf die Idee kommen, so viel Proviant mitzunehmen. Mengen, die wirklich für die gesamte Reise ausreichen.
Aber es geht nicht um die zurückgelegte Strecke oder die Dauer, sondern um den Sinn, den wir dieser Reise beimessen – aus dem politischen Herzen der Europäischen Union heraus und hinein in das internationale Finanzzentrum. Eine solche Reise in der Premier Business Class ist ein Statement, und das servierte Menü ist ein anschauliches Statement des eigenen Status. Ein gewisses Maß an Langeweile und eine offensichtliche Appetitlosigkeit gehören selbstverständlich zur Etikette.
Den Tunnel betraten wir übrigens vor dem Nachtisch. Völlig unbemerkt durchquerten wir den sogenannten Dschungel von Calais, in dem immer noch rund 1.000 Flüchtlinge unter menschenunwürdigen Umständen auf eine Weiterreise hoffen.