Geht es der Leichtathletik wieder gut?

Manchmal entscheidet nur die Nasenspitze. Oder ein Millimeter Schulter. Und die Welt sieht ein bisschen anders aus. So wie Sprinterin Gina Lückenkemper vom SCC Berlin. Am Morgen nach ihrem Lebenslauf lag sie glücklich im Bett, den Kaffee in der Hand. Ein Verband bedeckte ihre Wunde am linken Bein, Europas neue Sprintkönigin musste über Nacht mit acht Stichen genäht werden. Es spielt keine Rolle. Über 100 m lief Lückenkemper überraschend um den EM-Titel. Es war der größte Triumph seiner Karriere, eine schillernde Show im Münchner Olympiastadion. “Kann mich jemand kneifen? Ist das wirklich gestern passiert?” fragte Lückenkemper: „Oder war es nur ein Traum?“

Sie hatte für ein stürmisches Ende gesorgt. Nach 10,99 Sekunden lief sie für die Goldmedaille ins Ziel – nur fünf Millisekunden vor der Schweizerin Mujinga Kambundji. Die Bronzemedaille ging an den Briten Daryll Neita (11:00 Uhr). Das Zielfoto zeigte ihr einen Millimeter Schultervorsprung vor den anderen.

Lückenkempers Wunde mit acht Stichen genäht

„Ich bin sehr glücklich und kann noch gar nicht alles glauben“, sagte Lückenkemper, dem seine Verletzung zunächst gar nicht aufgefallen war. 40.000 Fans feierten eine riesige Leichtathletik-Party auf der Tribüne. Erst später, mit der Deutschlandfahne auf den Schultern, bemerkte Lückenkemper das Blut an seinem linken Bein. Sie warf alles in diesen Goldrausch – und stürzte nach dem Finale ab. Lückenkemper hat sich wohl mit den Nägeln ins Bein geschnitten. Ihre Mutter und ihr Vater waren bei ihr, als Sanitäter die Wunde versorgten. Nachdem sie ins Krankenhaus gegangen war, wurde sie mit acht Stichen genäht. „Aber mir geht es gut“, sagte Lückenkemper, nachdem sie um 1.10 Uhr im Hotel des Teams angekommen war – und wurde vom Rest des Teams bejubelt. Sein Saisonstart am Sonntag scheint nicht gefährdet.

Vor vier Jahren hatte Lückenkemper bereits Silber bei der EM in Berlin gewonnen, nun ist sie Europas neue Sprintkönigin. Da die Jahre dazwischen schwierig waren, bremsten Verletzungen Lückenkemper aus, sie war nicht mehr schnell und musste Häme hinnehmen. „Wenn jemand vor einem Jahr, als es für mich noch schwierig war, an mich geglaubt hätte, hätte ich diesen Menschen unglaublich gefeiert“, sagte Lückenkemper.

Seit November 2019 trainiert sie mit Lance Braumann in Florida zusammen mit Stars wie dem 200-m-Weltmeister Noah Lyles und der 400-m-Olympiasiegerin Shaunae Miller-Uibo. Und in diesem Jahr zahlt sich die Plackerei, bei der das Training auch mal über die Schmerzgrenze geht, aus. Ende Juni knackte Lückenkemper in München erneut die 11-Sekunden-Marke – zuletzt gelang ihr das 2018. Die Stimmung im Stadion nahm sie mit.

Bereits vor dem Rennen hatte die Medaillen-Party im Stadion begonnen, mit der Goldmedaille für Zehnkämpfer Niklas Kaul sowie Silber und Bronze für die Diskuswerferinnen Kristin Pudenz aus Potsdam und Claudine Vita aus Neubrandenburg. „La Ola“ von 40.000 Fans. „Wer es heute Abend hier erlebt hat, weiß, dass die totgesagte deutsche Leichtathletik zumindest noch ein bisschen am Leben ist“, sagte Europameister Kaul.

Tatsächlich sagte der neue Leichtathleten-König wohl: Natürlich lebt die deutsche Leichtathletik! Nach der historisch schlechten WM in Eugene sehen gezählte Athleten vor allem am magischen Vierer-Medaillen-Dienstagabend einen Hoffnungsschimmer im gelungenen Auftakt der EM in München.

Deutsche Leichtathleten sind immer noch keine Weltklasse

Dreieinhalb Wochen nach dem WM-Desaster mit nur zwei Medaillen zeichnet der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) ein anderes Bild als die USA. Die Erfolge, vor allem die Art und Weise, wie sie erzielt wurden, waren Leichtathletik-Werbung. Der „emotionale Höhepunkt“ der Saison, den Kaul als Europameisterschaft bezeichnete, scheint zu begeistern.

Acht Medaillen holte das DLV-Team in den ersten beiden Tagen, neben Kaul und Lückenkemper triumphierte auch Christopher Linke im Schritt am Dienstagvormittag. „Es ist toll für die ganze Mannschaft, dass wir so erfolgreich sind. Das zeigt, dass wir noch Leistungssport betreiben können“, sagte Olympia-Zweiter Pudenz. Als Elfte gehörte die Potsdamerin noch zu denen, die in den USA im Stich gelassen haben. Jetzt hat sie mit 67,87 Metern eine persönliche Bestzeit erreicht – nur acht Zentimeter fehlten ihr, um die Kroatin Sandra Perkovic von ihrem sechsten EM-Titel abzuhalten.

Allerdings hätten deutsche Leichtathleten mit ihren Leistungen am Dienstag in Eugen keine Medaille gewonnen. Lückenkemper würde im 100-m-Finale mit einer Zeit von 10,99 Sekunden Achter werden, sofern er sich qualifiziert. Für Kaul hätte es trotz seines extrem starken Speerwurfs und 1500-Meter-Laufs ebenso wie für Pudenz nur zu Platz vier gereicht.

Weltklasse ist in fast allen Bereichen noch weit entfernt. Olympiasiegerin Malaika Mihambo analysierte, dass die deutsche Leichtathletik noch etwas Zeit brauche, um an die Weltspitze zu gelangen. Auch bei der Finalplatzierung haben die deutschen Athleten enormes Verbesserungspotenzial.

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