Harald Jähners brillantes neues Buch „Höhenrausch“

Die Weimarer Jahre seien “eine euphorische Zeit” gewesen, sagt Harald Jähner, ehemaliger Feuilleton-Redakteur der Berliner Zeitung, im Interview. Deshalb kam er auf den Titel „Höhenrausch“. Eine Metapher, die zu der extrem schnellen und revolutionären Zeit der 1920er Jahre passt, der die „Höllenfahrt“ des Nationalsozialismus folgen sollte.

Doch bleiben wir in den „Roaring 20s“ und schauen uns einige frappierende Parallelen zu unserer unmittelbaren Gegenwart an, die Jähner aufzeigt. Mehrfach taucht in seinem Buch das Wort „Selbstermächtigung“ auf, das an das „Empowerment“ unserer Zeit erinnert. Auch „Selbstoptimierung“, „Ego-Perfektion“ erlebten damals ihre erste Blütezeit. Abschließend schreibt er: „Gender-Debatten zu LGBT+ sind keineswegs eine originäre Entwicklung des jungen 21. Jahrhunderts, sie hatten vor hundert Jahren einen starken Auftakt.“

Das Wort „queer“ existierte im deutschen Wortschatz noch gar nicht, aber beim Lesen dieses Buches hat man oft das Gefühl: Moment mal, das kommt mir alles sehr bekannt vor. Es ist nicht ungewöhnlich, dass sich jemand in der Gegenwart vorstellt. Damals, so Jähner im BR-Interview, „waren die Strukturen gegeben, in denen wir uns heute noch bewegen. Gender-Zweifel, Experimente mit sexueller Identität, Vermessung des weiten Feldes zwischen Mann und Frau, sind originäre Themen der 1920er Jahre ” .

Weimar und die unmittelbare Gegenwart

Die Nazis, die 1933 an die Macht kamen, verachteten Weimar als „Zeit des Systems“. Kampfbegriffe wie „Systempresse“ und „Systempolitiker“ kursierten. Heute faselt die extreme Rechte, die AfD, von „Systemparteien“ und „Systemmedien“ und fragt sich: Wiederholt sich die Geschichte doch?

Jähner, Jahrgang 1953, stellt immer wieder Bezüge zur Gegenwart her, sei es die damalige Mietpreis- und Immobilienmarktbremse, der Vergleich von „Vater“ Friedrich Ebert mit „Mutter“ Angela Merkel oder ob er liest Ruth Landshoff – Yorcks Roman „Die Vielen und der Eine“ von 1930 als „eines der frühesten Beispiele deutscher Schlagerliteratur“. Darüber hinaus ist sein Buch voll von aufschlussreichen und sehr zeitgenössischen Fotos. Die damals aufkommenden Massenmedien der illustrierten Fotografie, die fotografierten Personen und ihr Habitus beweisen es: Die „Weimarer Deutschen“ sehen unseren Zeitgenossen fast ähnlich.

Beim Lesen gilt es, immer wieder an Helmut Lethens Klassiker „Verhalten der Kälte“ zu denken, denn für Jähner prägt die Kälte die 1920er Jahre: Die Republik ist für viele eine „kalte Heimat“, es gibt die „kalte Militanz der Jugend“ dass vielen Zeitdokumenten die „snobistische Kälte“ im Ton, die er aus der beeindruckenden Fülle an Zeitzeugnissen schöpft. Gleichzeitig gab es die heißen Festivals.

Ein berauschendes Vergnügen in den damals öffnenden Lustschlössern war der sprichwörtliche „Vulkantanz“, den Harald Jähner mit seinen neu aufkommenden Tanzstilen sehr anschaulich beschreibt: dem „wilden Shimmy-Hustle“ und dem Charleston. Tänze, die Jugendliche ohne Tanzschule und ohne Partner aufführen konnten – ein Zeichen für die enorme Individualisierungs- und Emanzipationswelle der Frau. Plötzlich gingen sie alleine aus und konnten „eine Ballerina“ anheuern.

Ära der “Sexdemokratie”

Es ist eine sehr lockere Zeit, eine wilde, aufschlussreiche Zeit. Nicht umsonst hat Oskar Maria Graf das Wort „Sexdemokratie“ geprägt. Das Tischtelefon wurde damals erfunden, im Grunde eine frühe Form der Tinder-Dating-App, da es nur verwendet wurde, um Kontakt aufzunehmen, Fremde kennenzulernen und zu klären, ob Sie passen könnten. „Es war eine Partnervermittlung, dieses Tischtelefon. Man signalisierte seinen Wunsch, angerufen zu werden, mit einem aufleuchtenden Licht, man konnte sich erstmal in Ruhe anschauen“, sagt Jähner im Interview: „Man konnte sich visuell vergewissern, ob man wollte die Frau oder den Mann, dann hat man die Nummer gewählt, aus der Ferne geplaudert und am besten einen Termin vereinbart.”

Allerdings war die sexuelle Befreiung der Weimarer Republik nicht ohne Ambivalenz: Jähner vergleicht die Swingerclub-Ballsaalorgien, die der am New Yorker Broadway erfolgreiche deutsche Film- und Theatermogul Karl Vollmoeller damals in Berlin veranstaltete, mit Hollywood, der MeToo zum Laufen gebracht und fragt, “ob man sich den Salon von Karl Vollmöller so abstoßend vorstellen muss wie den Missbrauchsbetrieb von Filmproduzent Harvey Weinstein”. Wo Ausschweifungen und Ausschweifungen herrschen, besteht auch die Gefahr, Grenzen zu überschreiten.

Tucholsky schrieb von „einem gespaltenen Land“

„Deutschland ist ein geteiltes Land. Wir sind ein Teil davon“, schrieb Kurt Tucholsky 1929. Auch ein sehr zeitgemäßer Satz. Konstruktiv kann man nicht mehr argumentieren, der deutsche Außenminister und Altkanzler Gustav Stresemann hat das passende Wort “angegriffen werden” geprägt. Ende der 1920er Jahre interessierten sich die Menschen nicht mehr wirklich für Politik. Die Menschen werden nicht mehr ausreichend informiert, die Auflage seriöser Zeitungen geht rapide zurück, die Auflage des von Theodor Wolff geleiteten „Berliner Tageblatts“ schrumpft von 160.000 (1919) auf nur noch 25.000 Exemplare (1932).

Man ärgert sich über parlamentarische „Kämpfe“ und „Kämpfe“ – Formulierungen, die Jähner an die „Schluckaufe“ von heute denken lassen, die Journalisten gerne verwenden, wenn harte Stoffe nicht in neunzig Sekunden Sendezeit gepresst werden können.“ enge Kommunikationsblasen” und ließen sich ihr Weltbild am liebsten von Gleichgesinnten bestätigen. Heute spricht man von „Filterblasen”. damals, und du kannst es jetzt auch nicht, ein Déjà-vu.

Vergeblich bat Plessner um einen neuen Umgang damit

Ende der 1920er Jahre verhärteten sich die Fronten zunehmend, die Positionen wurden zunehmend unversöhnlich, es kam zu einer, wie Jähner es nennt, “Kommunikationskrise”. In diesem Zusammenhang macht er eine wunderbare Nachgrabung: Helmuth Plessners Buch „Grenzen der Gemein“ von 1924. In Zeiten des „sozialen Radikalismus“ war dies eine von dem Philosophen und Soziologen Plessner formulierte Theorie der Vereinigung, ein Aufruf zu einer „Kultur der Eindämmung“, zu einem respektvollen Umgang und Umgang miteinander.

Auch das scheint hochaktuell, heutzutage brüllt man sich lieber an oder geht automatisch davon aus, dass der andere die geringsten Absichten hat. Im Gespräch mit dem BR betonte Jähner: „Ich halte es für überlebenswichtig für die Demokratie, dass Menschen, die eine ganz andere und gegensätzliche Meinung vertreten, zunächst wohlwollend unterstellt wird, dass sie gute Absichten haben und nur die falschen Mittel wählen. Leider ist dies positiv.“ Auch Vermutungen und Wohlwollen kommen hier immer seltener vor, stattdessen stellen wir Andersdenkende unter Generalverdacht, dieser Frust über andere Einstellungen, die nicht zu unserer passen, zerstört auf Dauer eine Demokratie, man braucht eine gewisse Neugier und Empathie zur Unterstützung der Freiheit.”

Dieses exzellente und schnelle Buch über ein altes Kapitel deutscher Geschichte lässt Sie an unsere Gegenwart denken.

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