Er ist Deutschlands klügster Welthistoriker und Erklärer: Prof. Heinrich August Winkler*!
Im BILD-Interview erklärt er, was wir aus der Weimarer Republik gelernt haben, warum wir Putin besiegen und den Gaskrieg gewinnen müssen. Und welche historischen Fehler Angela Merkel und Gerhard Schröder gemacht haben…
BILD: Krieg in Europa – Europa im Krieg. Hätten Sie das vor einem Jahr für möglich gehalten?
Heinrich August Winkler: Nein! 1990 unterzeichnete Putins Vorgänger Michail Gorbatschow die Pariser Charta. Dieses Dokument sollte eine freie Welt von Vancouver bis Wladiwostok schaffen – volle Souveränität der Staaten. Unverletzlichkeit des Staatsgebiets. Freie Bündniswahl! Spätestens 2014, mit der Annexion der Krim und dem Krieg im Donbass, wurde deutlich, dass Russland entschlossen ist, sich aus der Paris-Charta zurückzuziehen. Man musste mit allem rechnen – aber gerade wir Deutschen verschließen gerne die Augen vor dem, was seit 2014 passiert ist. Ein historischer Fehler!
Haben Sie Angst vor einer großen Eskalation, einem Flächenbrand für Europa?
Winkler: Das würde passieren, wenn Putins Truppen es wagen würden, ein Nato-Mitglied wie Litauen anzugreifen. Deshalb ist es so wichtig, dass der Westen und Deutschland die Ukraine weiterhin massiv bei der Abwehr russischer Eindringlinge unterstützen.
Der Beginn des Kalten Krieges: Abschreckung!
Winkler: Jawohl. Erst als Putin glaubt, nichts zu befürchten zu haben, setzt er seinen Angriffskrieg woanders fort. Unser Signal muss lauten: Die NATO wird nicht tatenlos zusehen, wenn Grenzen verletzt und Menschen ermordet werden! Und wer EIN NATO-Land angreift, löst den Fall für das Bündnis der gesamten Nordatlantischen Allianz aus. Nur so kann Putin in Schach gehalten werden.
Das heißt aber: Die Ukraine muss zunächst militärisch gewinnen…
Winkler: Die Ukraine kann nicht akzeptieren, dass Russland Teile seines Landes gewaltsam angeeignet hat. Aber wann die Zeit für diplomatische Verhandlungen kommt, kann nur die Führung in Kiew entscheiden. Gerade wir Deutschen dürfen nicht den Eindruck erwecken, wir wollten über die Köpfe der Ukrainer hinweg über ein Ende des Krieges verhandeln.
Deutschlands Rolle in Ost- und Mitteleuropa ist historisch getrübt – von Polens Teilung zwischen Russland, Österreich und Preußen bis zum Hitler-Stalin-Pakt, der Polen und die baltischen Staaten einer doppelten Aggression von deutscher und sowjetischer Seite aussetzte!
Deutschland hat große Schwierigkeiten, Waffen an die Ukraine zu liefern. Haben wir Deutsche Angst vor weltpolitischer Verantwortung?
Winkler: Deutschland erlangte seine Souveränität erst nach der Wiedervereinigung 1990 zurück. Bis dahin galt der Alliiertenvorbehalt. Die Entscheidung über Krieg oder Frieden lag letztlich nicht in den Händen der Deutschen, sondern in den Händen der Großmächte USA und Sowjetunion. Daran hatten wir uns in beiden Teilen Deutschlands sehr gut gewöhnt. Mit der neuen Souveränität und unserer neuen militärischen Verantwortung konnten wir nach der Wiedervereinigung lange Zeit nicht viel anfangen. Dies dauert bis heute an.
Putins Freund und Altkanzler Gerhard Schröder Ich hatte weniger Probleme damit…
Winkler: Wenn es um Russland geht, greifen manche Politiker gern auf deutsches Großmachtdenken zurück. So geschehen bei der Nord Stream-Pipeline. US-Bedenken und vor allem Warnungen aus der Ukraine, Polen und den baltischen Staaten wurden ignoriert. Bundeskanzler Schröder ignorierte jede Kritik, seine Nachfolgerin Angela Merkel stellte sich ihm in den Weg – auch bei der zweiten Gaspipeline Nord Stream 2, die erst gestartet wurde, nachdem die Krim bereits erobert und Donbass bereits im Krieg war. Dadurch hat Deutschland viel Vertrauen bei unseren Nachbarn und Verbündeten im Osten verloren.
Aktuell fürchten die Deutschen die Inflation mehr als den Krieg in der Ukraine – drohen uns Ausschreitungen, Weimarer Zustände?
Winkler: Welten trennen uns von den Weimarer Verhältnissen! 1932, auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, war die absolute Mehrheit der Nationalsozialisten und Kommunisten im Deutschen Bundestag gegen die Demokratie. Das Land hatte etwa 5,5 Millionen Arbeitslose und es gab fast täglich Straßenschlachten. Die Situation heute ist völlig anders.
Dh …?
Winkler: In Westdeutschland trugen Wirtschaftswachstum und Wohlstand nach dem Krieg wesentlich dazu bei, dass sich die Menschen schnell mit der neuen Demokratie anfreundeten. Im Osten war das anders: Es gab keine Demokratie oder Massenprosperität wie im Westen. In manchen Kreisen hielten alte deutsche Vorbehalte gegenüber der westlichen Demokratie länger an. Davon profitiert heute die AfD.
Eine Demokratie ist keine Schönwetterveranstaltung.
Die Stärke einer Demokratie zeigt sich erst, wenn die Wirtschaft aufhört zu wachsen. Dann werden wir auch sehen, was wir aus der Geschichte lernen. Und was für ein starker Anführer unsere Politiker agieren. Die größte Prüfung unserer Demokratie steht vielleicht noch bevor…
Das Cover von Winklers neuem Buch „Nation State Against Will“
*Diesen Monat Winklers neustes Buch „Nationalstaat gegen Willen. Interventionen in der deutschen und europäischen Politik“ (Hrsg. CHBeck, 288 Seiten, 26,95 Euro)