Lumbung, Nongkrong und eine dunkle Wolke

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Einblick in Gudskuls Methoden im Fridericianum.  Foto: Bern
Einblick in Gudskuls Methoden im Fridericianum. Foto: Berins © Berins

Gute Laune auf der documenta finfteen – gemeinsam ausgehen löst das Problem leider nicht.

Die Frage ist, wo ist die Zukunft, wenn man danach sucht. Zumindest eine Andeutung von ihr muss es inzwischen geben, vor allem in Kassel. Zumindest die documenta five versucht eine neue Sicht auf die Welt: eine Emanzipation von den ausbeuterischen und kapitalistischen Strukturen des (Kunst-)Marktes, aus eurozentrischer Sicht, aus einem Konkurrenzantagonismus. Als Gegenmodell will die documenta das Teilen, die Vereinigung definieren; Es heißt Wirbelsäule. Tatsächlich, so klingt es in den Gesprächen mit Beteiligten euphorisch, sei die Ausstellung nicht die documenta fünfzehn, sondern „Lumbung eins“. Ein Prinzip, das die (Kunst-)Welt erobern könnte – aber leider auch der Grund für ihren Untergang ist.

Zur Halbzeit ist die Stimmung auf der Documenta positiv und entspannt. Die Kollektive haben die bisherige Zeit genutzt, um ihr „Ökosystem“ aufzubauen, ein Netzwerk, das nicht auf kommerziellen Interessen, sondern auf Freundschaften basiert. „Make friends, not art“ ist das Motto. Der beste Weg, Freunde zu finden, ist Nongkrong, das „Abhängen“ an einem der Veranstaltungsorte, insbesondere im Hinterhof des Fridericianums.

Dort wehen bunte Wimpelketten über Biertischen, in einer Open-Air-Gemeinschaftsküche wird Kaffee gekocht, manche arbeiten am Laptop, andere rauchen. Für manche Künstler ist es das Wohnzimmer auf Zeit. Sie übernachten auf Etagenbetten in einem Schlafsaal gleich hinter der Ausstellungshalle des Fridericianums, leben, arbeiten, kochen, feiern zusammen – auch das gehört zum kollektiven Kunstmachen, wie es bei Gudskul gelehrt wird. Der Gudskul – ist das Herz von Lumbung; eine alternative Kunstschule, die 2018 von den indonesischen Kollektiven Ruangrupa, Serrum und Grafis Huru Hara in Jakarta gegründet wurde. Während der documenta 15 wurde Gudskuls Studium nach Kassel verlegt.

Kevin, ein junger Indonesier, zieht seine eigene Walze. Tatsächlich steht er in intensiver Korrespondenz mit dem Gudskul in Jakarta. Aber er nimmt sich Zeit für ein ausführliches Gespräch. Er hilft bei der Organisation des Kurses, sagt er. Es gibt keine klassischen Vorlesungen, keinen Produktionsdruck: Das Curriculum besteht aus informellen Diskussionen, bei denen jeder seine Ressourcen einbringt und voneinander lernt.

Der „Gudspace“ im Erdgeschoss des Fridericianums soll Einblick in die Methoden der Gudskul geben: Dort werden Nongkrong-Sitzgruppen eingerichtet, überdimensionale Mindmaps installiert, Aufnahmen von „Majelis“ gespielt, Meetings gespielt und es gibt Live-Streaming zu die Mutterschule in Jakarta. In der Mitte des Raumes ist die Documenta Gudskul-Crew „Lot #5“ zu sehen, die inzwischen ein Kollektiv gegründet hat; das Lumbung-Liebeskollektiv.

Das Ergebnis von Lumbung Love ist immer noch nicht besonders üppig. Einige Holzkisten sind übereinander gestapelt und bilden einen Raum im Raum, in dem Relikte und Artefakte einer gemeinsamen Zeit arrangiert sind. Gemeinsam Zeit zu verbringen wird als Wert an sich zelebriert. Auf einer Leinwand werden Filmausschnitte gezeigt, die das Leben der Gemeinde dokumentieren. Ein Tontopf mit halbverbrannten Pflanzen und Asche ist auch da; es ist ein Überbleibsel einer Reinigungszeremonie, die darauf abzielt, die gute Atmosphäre zwischen den Kollektiven, den Künstlern zu bewahren und die schlechten Schwingungen abzuwehren, die von außen auf die Ausstellung einwirken. Documenta-Kollektive interpretierten Berichte über Antisemitismus, Schlagzeilen in deutschen Medien, Forderungen jüdischer Gemeinden und Politiker als Anfeindungen gegen ihre Herkunft und ihre künstlerische Praxis.

Dies zeigt das eigentliche Dilemma dieser Ausstellung: nämlich, dass etwas unerklärt und ungeklärt bleibt, während über alles andere gesprochen wird. Allerdings wird die Antisemitismus-Debatte immer noch auf einer anderen Ebene geführt, ab da hängt das Szenario wirklich so positiv wie eine vermeintliche Bedrohung. Dafür gab es mehrere Gründe: Statt öffentlicher Diskussionen vor Ort wurden Entschuldigungen ausgesprochen und Motive, die zuletzt als antisemitisch gedeutet worden waren, auch als „Fehlinterpretation“ bezeichnet – was den destruktiven Verlauf der Debatte nur förderte. Warum wird in der herzlichen und weltoffenen Atmosphäre der documenta five nicht auch darüber gesprochen? Ist die Antisemitismus-Debatte nicht mit Lumbung vereinbar? Was sagt das über die tatsächliche Nachhaltigkeit des Konzepts aus?

Ruangrupas defensives und introspektives Verhalten ist faszinierend, und es scheint, dass das Kollektiv den Diskurs über Antisemitismus als Bruch in der kuratorischen Praxis ignorieren will. Im documenta-Handbuch schreibt Ruangrupa: „Wir unsererseits haben die Einladung zur documenta zurückgeschickt und um Teilnahme gebeten unser Eine Reise werden.“ Es geht um die Definition eigener Themen, um (künstlerische) Selbstbestimmung. Auch die eingeladenen Kollektive müssten eigene Wege gehen und „ihre langjährige Arbeit nicht unterbrechen müssen, nur um Teil eines großen Kunstereignisses wie der documenta zu sein“. Der eigenständige Work-in-Progress-Charakter macht die Ausstellung interessant – erweist sich aber als System innerhalb eines größeren Systems leider auch als recht unflexibel.

Das Unerklärliche ist eine Herausforderung beim Besuch der Documenta: Es ist immer präsent, wie eine leichte Skepsis bei der Bewertung von Projekten und Ausstellungen. Dahinter mag eine versteckte Botschaft des Hasses stecken… Allerdings ist diese bei den meisten Projekten – vermutlich – unbegründet. Unabhängig davon ist das Kunstpublikum vor allem kontaktfreudig, aufgeschlossen und versucht bei Workshops, Vorträgen, in Nongkrong und anderen Veranstaltungen Einblicke zu gewinnen.

Zehn Menschen sitzen auf zerknitterten Ledersofas in einer Werkstatt von Agence Future, einem belgischen Kunstprojekt, das seit 20 Jahren nach Bildern der Zukunft sucht. Ein Teilnehmer wurde geschickt, um ein Bild der Zukunft auf Film festzuhalten. Dann wird ein Mikrofon in eine Diskussionsgruppe geleitet.

Agence Future wurde vom Centre d’art Waza nach Kassel eingeladen. Das aus der Demokratischen Republik Kongo stammende Kollektiv arbeitet unter anderem auf der Documenta an einer alternativen Art, Ausstellungen zu kuratieren, weg von einer eurozentrischen, „extraktivistischen“, wie es heißt, hin zu einem selbstbestimmten Agenda-Kontext. Im Gesprächskreis möchte das Centre d’art Waza über die Zukunft künstlerischer Praktiken sprechen und herausfinden, wie man die Lumbung-Praxis mit nach Hause nehmen und dort weiterentwickeln kann.

Zuhören, reden, sich Zeit nehmen. Dass das Gespräch eigentlich eher eine Reflexion vergangener Prozesse auf der documenta ist als ein Blick in die Zukunft, spiegelt sich auch wider: Ruangrupa nennt diese Methode „Ernte“; Sammeln und dokumentieren Sie, was Sie gelernt haben.

Die Teilnehmerin, die ihre Zukunftsvision festhalten sollte, kam übrigens nicht mit einem Video einer Documenta-Arbeit zurück, sondern filmte einen tristen grauen Parkplatz.

Zukunftsvisionen gibt es viele. Die documenta 15 ist eine davon, nur eine mögliche, ziemlich inspirierend. Aber es ist nicht perfekt, weit davon entfernt.

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