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Fischerhude – Die Fotos wirken überwältigend aktuell. Jetzt, wo der Krieg in Europa zurück ist. Auch auf dem Territorium der Ukraine, damals Teil der Sowjetunion und damit Ziel des deutschen Vernichtungsfeldzugs, herrschte vor 80 Jahren Krieg. Als junger Soldat erlebte der Maler Christian Modersohn (1916-2009) den Vormarsch auf Stalingrad. Mitten im Krieg hielt er Schrecken und Zerstörung mit Kohle auf seinem Skizzenblock fest – aber auch die Schönheit der Landschaft und die prägenden Begegnungen mit den vermeintlichen Feinden. Es sind berührende und eindringliche Bilder, die derzeit im Otto-Modersohn-Museum in Fischerhude zu sehen sind.
Die Sonderausstellung „Schublade im Krieg“ umfasst 42 Zeichnungen von Heinrich Vogeler, die 1917 während des Ersten Weltkriegs auf dem Balkan entstanden, sowie 50 Aquarelle und Zeichnungen von Christian Modersohn aus den Jahren 1941/42, gemalt in russischer und ukrainischer Sprache nur während des Krieges WWII.
Modersohns „Mädchen mit Kopftuch“ erzählt eine ganz besondere Geschichte. Zunächst zieht eine großformatig reproduzierte Schwarz-Weiß-Fotografie den Betrachter in ihren Bann. Die darauf eingravierte Szene wirkt surreal: Inmitten des Kriegsschreckens im Dongebiet zeichnet ein deutscher Soldat, also der Feind, ein russisches Mädchen, dessen Angehörige gespannt zuschauen. Der Soldat ist der 25-jährige Christian Modersohn.
Seine Tochter Antje Modersohn, heute Leiterin des Familien-Fischerhuder-Museums, das die Kunstwerke ihres Großvaters Otto Modersohn beherbergt, kennt die Geschichte gut: “Mein Vater saß da und zeichnete das russische Mädchen mit dem Kopftuch.” -Die alte Zeichnung wird direkt unter dem Foto angezeigt.
Das Entstehungsfoto erhielt Christian Modersohn jedoch erst 2008, ein Jahr vor seinem Tod. „Mein Vater zeichnete gerne Menschen, die ihn künstlerisch reizten. Und so sprach er diese junge Frau an, die sich von ihm zeichnen ließ. Ihr Kamerad Fritz Gehrmann hat diese Szene fotografiert“, sagt Antje Modersohn. Fritz Gehrmann starb im Krieg. Viele Jahrzehnte später stieß seine Tochter zufällig wieder auf den Namen Christian Modersohn. Fritz Gehrmann hat es während des Krieges gemalt, „und diese mit dem Namen meines Vaters signierte Zeichnung war die einzige Erinnerung an die Tochter seines Vaters Fritz Gehrmann“, sagt Antje Modersohn. Als diese Tochter eines Tages Christian Modersohn im Radio sprechen hörte, kam ihr der Name bekannt vor und rührte an eine alte Erinnerung: „Sie durchstöberte den Nachlass ihres Vaters und fand dieses Foto, das sie uns schickte.“
Nach seinen prägenden Kriegserlebnissen setzte sich Christian Modersohn zeitlebens für die deutsch-russische Aussöhnung ein. Laut seiner Tochter war Christian Modersohn Pazifist: „Mein Vater hatte Kohle im Patronengürtel statt Patronen, und in seiner Feldzugtasche hatte er seinen Skizzenblock und ein kleines Pinselkästchen statt seiner Pistole.“ die zerstörten Dörfer und Städte – darunter Charkiw, das damals auf Russisch Kharkov hieß und dessen erneute Zerstörung fast täglich in den Nachrichten zu sehen ist.
Nach der Schlacht von Stalingrad 1943 kehrte Christian Modersohn schwer verwundet nach Hause zurück. Während sein Bruder Ulrich in Russland starb, überlebte er dank der Hilfe von drei jungen Russen, die er nie vergaß. „Immer wieder sprach er über die rettende Hilfe dreier junger Russen und über seine Dankbarkeit, die für sein Leben entscheidend wurde“, sagt seine Tochter.
Tatsächlich gibt es neben aktuellen Ereignissen auch andere Gründe, die die lang geplante Ausstellung „Drawer at War“ nun zeigt. Doch Rainer Noeres, der das Museum mit seiner Frau Antje betreibt, sieht in der Zerstörung ukrainischer Städte vor 80 Jahren durch die deutsche Wehrmacht und nun durch die russische Armee „eine tragische Doppelung, die dieser Ausstellung eine ungewollte Aktualität verleiht“.
Die Sonderausstellung „Schubladen im Krieg“ mit Fotos von Christian Modersohn und Heinrich Vogeler ist noch bis zum 18. September im Otto Modersohn Museum, In der Bredenau 95 in Fischerhude zu sehen – täglich von 10 bis 18 Uhr. Weitere Informationen finden Interessenten unter www.modersohn-museum.de im Internet.
