Blick in die Ausstellung im Kunsthaus Dahlem, rechts im Triptychonbild von Wolf Vostell »Shoah 1492–1945« (1997)
Foto: VG Bild-Kunst/Gunter Lepkowski
Das große und hohe Ateliergebäude in Berlin-Dahlem für den Bildhauer Arno Breker, einen der prominentesten „gottbegabten Künstler“ im nationalsozialistischen Deutschland, wurde zwischen 1939 und 1942 auf Initiative von Albert Speer errichtet. Es sollte zur Herstellung von Großplastiken für die größenwahnsinnige Neugestaltung der Reichshauptstadt »Germania« dienen, wurde aber kriegsbedingt kaum noch genutzt. Das Gebäude überstand den Krieg ohne größere Schäden und beherbergt seit 2015 einen Teil des Kunsthaus Dahlem, einem Ausstellungshaus der Kunsthistorikerin Dorothea Schöne.
Was ist in der Zwischenzeit passiert? Dort hatte Wolf Vostell, 1932 als Wolfgang Schäfer in Leverkusen geboren, sein Atelier – von 1984 bis zu seinem Tod 1998. Vostell war einer der wenigen Künstler, die sich gegen Wirtschaftswunder, Kapitalismusbekenntnis, Kalten Krieg und Anti -Kommunismus verbunden, das Schweigen und Vergessen der NS-Verbrechen störte die gesellschaftliche Atmosphäre. Bereits 1967, zwei Jahre nach dem Ende des ersten Auschwitz-Prozesses in Frankfurt am Main, ging Vostell das Thema mit dem Farbsiebdruck »Treblinka« dramatisch an. Das Motiv zeigt nackte Jüdinnen kurz vor der Erschießung in einer Senke. Mit einer rosafarbenen Linie über den Köpfen der Frauen markierte Vostell nicht nur seinen eigenen Fokus, sondern auch den, auf den er den Betrachter fokussieren wollte. Mit »Treblinka« meinte Vostell wohl bewusst einen damals noch wenig bekannten Ort der Massenvernichtung. Die Darstellung basiert jedoch auf einem Foto, das der deutsche Polizist Gustav Hille in der Ukraine aufgenommen hat. Im Oktober 1942 war er Augenzeuge der Massenexekution nach der Liquidierung des Ghettos Misoch in der Region Riwne in der Westukraine. Vostells Siebdruck ist in der aktuellen Ausstellung im Kunsthaus Dahlem mit dem Titel »Kunst nach der Shoah. Wolf Vostell im Dialog mit Boris Lurie«.
Die Fotomontage »Combs« von 1968 ist dort ebenso zu sehen wie einbetonierte Fernsehgeräte, die Vostells Kritik am Massenmedium zum Ausdruck bringen. Dafür verwendete der Künstler das berühmte Foto eines deutschen Polizisten, der 1942 im ukrainischen Iwanogorod sein Gewehr auf den Rücken einer Mutter richtete, die ihr Kind trug. Vostell brachte Clips entlang der Horizontlinie an und markierte so auch die Schusslinie von der Aggressor zu den Opfern.
Boris Lurie, der Vostell 1964 bei dessen Fluxus-Veranstaltung in Great Neck, New York, kennenlernte, pflegte bis zu seinem Tod eine rege Korrespondenz mit dem Berliner Künstler. Während das über sechs Meter lange „Shoah“-Gemälde-Triptychon von 1997, das Vostell hier an diesem Ort geschaffen hat, sowie eine als KZ-Halle inszenierte große Eingangsumgebung neben anderen Werken gezeigt werden, ist die Art de Lurie deutlich weniger präsent . Seine Arbeit ist in einem Hinterzimmer als Anhang untergebracht. Das erschwert den im Ausstellungstitel angekündigten Dialog.
Lurie, die 1924 in Leningrad in eine bürgerliche jüdische Familie hineingeboren wurde, wuchs in Riga auf, weil es ihrem Vater verboten war, in der Sowjetunion als Geschäftsmann zu arbeiten. Er verlegte sein Geschäft nach Riga und die Familie folgte ihm. Unter deutscher Besatzung wurden Luries Mutter, Großmutter und eine Schwester sowie seine erste Freundin Ljuba Treskunova im Herbst 1941 zusammen mit rund 28.000 anderen Frauen, Kindern und Alten mit Hilfe der lettischen Polizei auf deutschen Befehl hin erschossen. . Luries andere Schwester überlebte, als sie in Italien in die Vereinigten Staaten auswanderte. Boris Lurie und sein Vater Ilja überlebten mehrere Lager als Zwangsarbeiter und wurden im April 1945 in den Polte-Werken, Magdeburg, einem Außenlager des KZ Buchenwald, entlassen. Sie wanderten 1946 nach New York aus und Lurie begann dort ihre künstlerische Laufbahn, verkaufte sich aber schlecht und finanzierte sich durch Werbearbeit.
Zunächst verarbeitete er den erlebten Schrecken in figurativen Gemälden. Nach kurzer Zeit wandte er sich einer „freieren“ Kunstform zu, behandelte seine Memoiren aber weiterhin zunehmend anschaulich und stellte sie in einen breiteren politischen Kontext. In den 1950er Jahren entwickelte er eine ganze Reihe von »Mulheres Desmembradas« (zerstückelte Frauen), die einerseits deutlich auf den gelebten Verlust bezogen sind und andererseits auf die kapitalistische Vermarktung des weiblichen Körpers anspielen. Lurie kombinierte sukzessive Malerei mit der Technik der Collage. Er verband Pin-ups mit nationalsozialistischen Gräueltaten, erinnerte aber beispielsweise auch an die Verbrechen des US-Imperialismus in Vietnam. Zusammen mit Sam Goodman und Stanley Fisher erbte Lurie die March Gallery, einen Designraum im Untergeschoss eines Gebäudes an der Lower East Side, das früher von Elaine de Kooning und anderen verwaltet wurde. Dort versammelten sie weitere Künstler unter dem Namen NO!art.
Neben den thematischen Parallelen zwischen Vostell und Lurie – beide erinnern in ihren Werken an die Shoah und kritisieren auch den Vietnamkrieg – teilten sie auch eine ablehnende Haltung gegenüber dem Kunstmarkt, in dem das Angenehme und Akzeptierte zwangsläufig erfolgreich und übertriebene Kritiker waren. Positionen wurden ignoriert. Vostell drückte diese Kritik in Interviews und Texten aus, und Lurie schuf zusammen mit Sam Goodman Skulpturen in Form und Farbe menschlicher Exkremente als ultimativen Ausdruck seiner Verachtung für das künstlerische Establishment. In ihrer „NO-Sculpture Show“-Ausstellung 1964 gaben sie diesen Skulpturen sogar Sammler- und Galeristennamen wie „Shit of Castelli“ (nach Leo Castelli) und „Shit of Sonnabend“ (nach Ileana Sonnabend).
Dank eines nach dem Tod ihres Vaters 1964 geerbten Vermögens und ihrer eigenen Börsenspekulation konnte Lurie eine völlig unabhängige Haltung gegenüber der Kunstwelt wahren und dafür diskret bezahlen. Eine zweiteilige Ausstellung von Lurie und den NGBK-Künstlern NO!art 1995 in Berlin wurde von der Presse bis auf wenige Ausnahmen weitgehend ignoriert. Luries Ästhetik hatte viel mit Punk zu tun und brachte viele Phänomene massenmedialer Präsenz mit Spuren der Malerei überschwänglich in großen Gemälden zusammen. In manchen Arbeiten verwendet Lurie jedoch eine starke Reduktion, die an Marcel Duchamps Ready Mades erinnert. Unter einem Zeitungsfoto eines Leichenhaufens aus dem KZ Buchenwald auf einem Lastwagen fügte er lakonisch Titel, Technik, Jahr und Autor hinzu: „Flatcar, Assemblage, 1945 by Adolf Hitler“.
»Kunst nach der Shoah. Wolf Vostell im Dialog mit Boris Lurie« bis 30. Oktober, Kunsthaus Dahlem, Berlin