„Wir brauchen die Spannung zwischen großen Toren und kleinen Spielzügen“

Was können die Deutschen von den Schweizern lernen? Nicht immer die Welt retten wollen, sondern auch kleine Lösungen finden, sagt Ulrich Eggers.

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Thomas Härry hat mich auf ein spannendes Interview in der NZZ mit dem Schweizer Autor Thomas Hürlimann aufmerksam gemacht – der Mann ist Neuland für mich. 1968, der seine Klosterkarriere in Einsiedeln hinterlässt, lebt seit 20 Jahren in Berlin – und spricht mit dieser fremden Perspektive plötzlich ganz anders von der Schweiz und auch von der Glaubensfrage. Als ob allein die Entfernung des Objekts eine völlig neue Sichtweise mit sich bringen würde. Könnte dies für den Glauben genauso gelten wie für die patriotische Wahrnehmung?

Er attestiert den Deutschen, dass sie immer hyperideal top-down denken und damit die Schweizer Bodenständigen negativ anstecken: „Deutsche denken nie bottom-up; was eine Gemeinde in der Schweiz automatisch macht. Sie stimmen ab: wollen wir diesen Parkplatz oder nicht? Für einen Deutschen ist das völlig irrelevant. Es geht immer um hehre Ziele: Wir retten die Ukraine, wir retten den Nordpol, wir retten die Natur.”

Pragmatismus und Kompromisse gehören dazu

Spannende Beobachtung. Erklärt das unsere ständigen hochgradig ideologischen Debatten über die großen Dinge und die Blockade zu vielem Pragmatischen im Alltag? Und wie spannend ist es, dass die Grünen, die ein hervorragendes Beispiel für diese fundamentalistische „Überlegenheit“ sind, plötzlich so viele Machtburgen zerstören, weil die Politik, die durchgesetzt werden muss, Pragmatismus und Kompromisse erfordert.

Schönes Bild für Predigt, Unterricht, Glauben und Leben. Nicht in dem Sinne, dass wir immer kleine Brötchen backen sollten, sondern dass wir die Spannung zwischen großen Zielen und kleinen Brötchen brauchen. Und dass wir als Deutsche dringend lernen müssen, beide Seiten zu ehren: Wir brauchen große Ziele und Ideale.

Das Leben ist nur in Spannung

Und wir sollten alltägliche kleine Lösungen nicht kleinreden oder als falsche Alternativen ansehen. Das Leben ist nur in Spannung. Wer sie einseitig auflöst, landet in einer Einseitigkeit, die Probleme macht…

Hürliman, der wohl am ehesten als Agnostiker bezeichnet werden kann, schreibt in seinem neuen Buch „Der Rote Diamant“ (Bild für die Geheimnisse des Glaubens, die es zu bewahren gilt), dass er versucht habe, diesen Diamanten in seinen 1968er Jahren und jetzt im hohen Alter zu stehlen (er ist 71 Jahre alt) und an Krebs erkrankt…) erkennt, dass es eigentlich darum gehen muss, diesen Diamanten zu schützen – die ewigen Werte. Ich finde eine interessante Analogie zum Alter (mit 20 oder 40 glaubt man anders als mit 60 oder 70 oder 80…).

Welche Überzeugungen sollten bewahrt werden?

Viele Post-Evangelikale heute, die halbverdautes oder sehr steiles Zeug aus ihrer Vergangenheit loswerden und dabei so viel Wert über Bord werfen. Oder im Grunde alle, die im Laufe ihres Lebens ihre kindlichen Glaubenssätze und starren oder starren Regeln erneuern oder revolutionieren – und dann oft feststellen, dass (einfaches Beispiel…) nicht die große schlaue Alternative ist, aber nichts daraus wird. Welche roten Diamanten musst du heute retten?

Analog dazu Hürlimann mit einem weiteren bewegenden Satz „Im religiösen Bereich ist voreiliges Verstehen schlimmer als Schweigen“.

Verknüpfung: Hürlimann-Artikel in der NZZ


Ulrich Eggers hat im Dialog mit Thomas Härry seine eigene Biographie geschrieben. „Die zündende Idee – über große Treue, mutige Entscheidungen und Glauben am Montag – eine Biografie im Dialog“ erschien Anfang 2022 bei SCM R. Brockhaus, Holzgerlingen.

Der Dialog zwischen Thomas Härry und Ulrich Eggers geht weiter:
www.EggersundHaerry.net

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