Wir stehen an einem gesellschaftlichen Wendepunkt“ – klimareporter°

Interessengruppen nutzen die Krise für eine ultimative fossile Renaissance, sagt Wolfgang Lucht. (Foto: Gerd Altmann/Pixabay)

Lesen Sie hier Teil 1: „Unsere Gesellschaft ist nicht widerstandsfähiger als das Klima oder die Ökosysteme“

Wetterreporter°: Herr. Lucht, als der Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, stellte die Ampelregierung eine schnellere Umstellung auf erneuerbare “Energie der Freiheit” in Aussicht. Der Bau von Flüssigerdgas-Terminals und der Weiterbetrieb alter Kohle- und vielleicht sogar Atomkraftwerke werden mit Ausnahmegenehmigungen regelrecht gefördert. Ausnahmen für Windkraft oder andere erneuerbare Energien werden nicht erwähnt. War die Chance, gemeinsam über Krisen nachzudenken, wieder verloren?

Wolfgang Lucht: Leider ist die Gefahr, diese Gelegenheit zu verpassen, sehr real. Wir befinden uns möglicherweise an einer Art sozialem Wendepunkt mit grundlegenden Auswirkungen auf die Zukunft.

Oder wir schaffen es, diese Kriegskrise zu nutzen, um endlich eine sozial-ökologische Transformation einzuleiten. Das bedeutet jedoch, dass wir neben sehr kurzfristigen Übergangsmaßnahmen konsequent auf eine andere, dezentrale und umweltfreundliche Energieversorgung setzen müssen.

Oder die entsprechenden Interessengruppen, die primär ihren eigenen Vorteil suchen, nutzen die Krise, um eine endgültige Renaissance der fossilen Energiesysteme in den nächsten 20 Jahren zu zementieren.

Spekuliert werden darf auch, dass die staatlich geförderte fossile Infrastruktur, die jetzt in der Krise aufgebaut wird, später zu weiteren Entschädigungszahlungen in Milliardenhöhe führt, wenn sie wieder raus muss.

Im Moment befinden wir uns sicherlich in einer Situation, die ungewöhnliche Maßnahmen erfordert. Aber unsere Energie und unsere Finanzen müssen in das neue Energiesystem fließen – also in große, koordinierte, staatlich geförderte Programme zur schnellen und reibungslosen Installation von Solarenergie auf den Dächern der Republik, in einer staatlichen Wärmepumpe und Energietechnik, Aus- und Weiterbildungsprogramm, im Bereich Windenergie in kommunaler und kommunaler Hand mit direkten Einnahmen vor Ort.

Kommt in der Gaskrise auch auf Kohlekraftwerke an gestärkt ausgeführt, besteht die Gefahr von zusätzlichem COzwei-Emissionen von bis zu 30 Millionen Tonnen. Selbst namhafte Klima- und Energieexperten praktizieren hier Fatalismus: Da Deutschland das Budget sowieso um 1,5 Grad überschreiten wird, kommt es nicht mehr auf ein paar Millionen Tonnen an. Was denkst du?

Die Situation ist eine Folge der verfehlten Energiepolitik des letzten Jahrzehnts. Anstatt die Energiewende konsequent voranzutreiben, wurde sie bewusst verlangsamt und der Fokus weiterhin auf fossilen Energieträgern gelegt.

Die Herrschenden haben die Logik eines begrenzten COzwei-Budgets nicht verstanden oder bewusst verschleiert, weil sie nicht ins Bild passten.

Es geht nicht darum, das Klima zu stabilisieren, nachdem man irgendwann die Emissionen reduziert hat. Außerdem sollten wir, bis wir sie auf null reduzieren, nicht mehr als eine begrenzte Gesamtmenge an Treibhausgasen emittieren.

Denn die Erderwärmung hängt direkt von dieser absoluten Gesamtausstoßmenge ab. Alle Länder der Welt müssen diesen Weg gehen und ihr COzwei-Bleiben Sie innerhalb des Budgets, wenn wir das Klimasystem nicht in ein Worst-Case-Szenario mit katastrophalen Auswirkungen treiben wollen.

Das Bundesverfassungsgericht hat die Bundesregierung daher zu einem CO verpflichtetzwei-Budget berücksichtigt. Das hat sie aber bis heute nicht. Auch die Ampelkoalition geht dem Thema aus dem Weg.

Auch der Grund ist klar: Selbst das sehr ambitionierte Bundesklimaschutzgesetz liegt über 1,5 Grad. Er führt uns zum ersten Mal in die richtige Richtung, aber er hat uns noch nicht zum politisch erklärten Ziel geführt.

Aber selbst wenn wir dieses Ziel nicht erreichen, ist nach 1,5 Grad das nächste entscheidende Ziel 1,6 Grad. Jedes Zehntel Grad ist extrem wichtig, da sich die Auswirkungen viel schneller aufbauen als diese Temperaturwerte.

Wolfgang Lucht

promovierte in Physik in Kiel und arbeitete für die NASA in den USA. Heute leitet er die Abteilung Erdsystemanalyse am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, ist Professor für Nachhaltigkeitswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitglied im Umweltbeirat der Bundesregierung. Anhand eines Computermodells des Erdsystems untersucht sein Team die planetaren Belastungsgrenzen der Erde. Wolfgang Lucht arbeitete für den Umweltrat an der demokratischen Legitimation von Umweltpolitik.

Jedes Zehntel Grad ist besonders wichtig in Regionen, die bereits an der Grenze zur Unbewohnbarkeit stehen.

An diesem Punkt bleibt es so, dass wir zu Hause und anderswo massive Verwüstungen anrichten können, ohne Angst haben zu müssen, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Auch das ist eine Form des Kolonialismus.

Das ist für uns natürlich historisch gewachsen. Aber tun wir genug, um das zu beenden?

Und so fragen wir uns, warum die Solidarität anderer Teile der Welt mit dem industriellen Norden politisch nicht immer so ist, wie wir es gerne hätten. Das hat auch mit diesen Verdrängungen der eigenen Haltung zu tun.

Ein ehrlicher Dialog zum Umgang mit diesen Problemen und ein internationales System zur Entwicklung aktueller Klimaabkommen wären daher wichtig.

Im Moment läuft es genau in die entgegengesetzte Richtung: Nationale Alleingänge werden als Zeichen der Stärke gefeiert. Aber sie sind ein Zeichen großer Verantwortungslosigkeit.

Viele Szenarien des Weltklimarates gehen mittlerweile auch von einem sogenannten Overshoot aus, also einer Erwärmung der Erde über 1,5 Grad für einige Zeit – und voraussichtlich Jahrzehnte. Glauben Sie immer noch, dass Überschwingen vermieden werden kann?

Der globale Kampf um die 1,5-Grad-Grenze ist noch nicht verloren. Auch wenn die Zeichen nicht gut stehen: Wir haben den Höhepunkt der globalen Emissionen noch nicht erreicht. Mit anderen Worten, sie steigen eher, als dass sie fallen.

In Deutschland ist unser fairer Beitrag zum 1,5-Grad-Ziel – realistisch gesehen – kaum zu erreichen. Da dies in anderen Industrieländern ähnlich ist, bedeutet dies auch, dass eine Überschreitung noch nicht unbedingt eintreten wird, aber relativ wahrscheinlich ist.

Dann stellt sich die Frage, wie weit und wie lange du überholen willst. Beides sollte so gering wie möglich bleiben, denn jedes Zehntel Grad Erwärmung löst Prozesse im Erdsystem aus, die meist irreversibel sind.

Und vor allem müsste für eine nur vorübergehende Überschreitung die Erdtemperatur danach wieder abgesenkt werden. Wie soll das passieren? Hier wird viel auf spekulative Zukunftstechnologien gewettet, die uns vor dem Schlimmsten bewahren sollen.

Aber selbst wenn wir unsere Treibhausgasemissionen auf null reduzieren würden, würde die Temperatur der Erde unseres Wissens zunächst relativ konstant auf dem dann erreichten Niveau bleiben.

Der Grund: Die nachfolgende Erwärmung der Sünden der Vergangenheit würde in den folgenden Jahrzehnten mehr oder weniger ausgeglichen, indem die Auswirkungen einer Treibhauskonzentration in der Atmosphäre langsam nachließen.

der COzwei– müsste der Entzug größer sein als die Überschreitung, um die Temperatur zu senken?

Um die Temperatur nach einem Überschwingen wieder abzusenken, müsste die Atmosphäre mit CO gefüllt werdenzwei-Zusätzliches Auszugswärmepotential wird weggenommen. Hier sprechen wir über Methoden in gigantischem Ausmaß, die heute nicht mehr signifikant existieren.

Diese Methoden werden jedoch bereits in den meisten Modellen angenommen, die Klimatrajektorien mit Überschwingen berechnen. Nur so können die Klimaziele erreicht werden.

Diese Ergebnisse sind analytisch korrekt, aber ihre praktische Realität ist fraglich. Es basiert eher auf Technologie als auf einer entschlossenen Transformation.

Egal, was man darüber denkt, eines ist auf jeden Fall klar: Die mit Abstand wichtigste Aufgabe – und das zeigen auch diese Modelle – ist es, alle klimaschädlichen Emissionen so schnell wie möglich auf null zu reduzieren und den letzten Punkt, wo dies ist nicht möglich, zu kompensieren.

Darauf sollte der Fokus liegen und davon sind wir weit entfernt.

Sollte die Welt also schließlich mit einer Art Klima-Apokalypse rechnen?

Nein, wir haben immer noch alle Möglichkeiten, die Auswirkungen dieser großen Weltveränderung zu begrenzen. Dabei müssen wir vorsichtig sein, denn wir können nicht hinreichend ausschließen, dass sich die Kette der Ereignisse schneller entwickelt als wir denken oder dass sich die Erde stärker erwärmt, als nach heutigem Kenntnisstand wahrscheinlich ist.

Hoffen wir, dass eine solche Entwicklung nicht eintritt. Das setzt aber voraus, dass wir unsere Erkenntnisse endlich ernst nehmen und diese menschheitsgeschichtliche Aufgabe wirklich in den Fokus der Politik rücken, verbunden mit einer Erneuerung auch der Wirtschafts- und Sozialpolitik.

Auch wenn es viele nicht wahrhaben wollen: Das 20. Jahrhundert ist längst zu Ende.

Hat das Finale schon begonnen oder nicht?

Das letzte Wort erinnert mich an Schach, ein Spiel zwischen Mensch und Klima. Da schon so viele Chancen vertan wurden, weil wir unvorsichtig waren und große Fehler gemacht haben, sind die Möglichkeiten am Ende des Spiels, Schachmatt zu vermeiden, sehr begrenzt geworden – die meisten Strategiewerkzeuge sind uns bereits genommen worden.

Ein großer Teil des Spiels liegt bereits im Rückstand und lässt sich nicht mehr reparieren – jetzt greift die Spiellogik.

Glücklicherweise sind wir in der realen Welt noch nicht am Ende des Spiels, wir sind noch mitten im Spiel. Wir können immer noch Fehler vermeiden, Gefahren erkennen, clever spielen und ein Endspiel vermeiden. Es gibt noch viele Möglichkeiten, den späteren Verlauf zu beeinflussen.

Aber das Bild ist noch lange überfällig. Das Wetter ist kein denkender Gegner, der versucht, uns zu besiegen. Stattdessen ist es seit dem Ende der letzten Eiszeit unser nützlicher Verbündeter und reagiert nur auf unsere Bewegungen. Am Ende hängt alles von unseren eigenen Fehlern ab.

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