Flávia Balderi blickt auf das Nachbargrundstück: bergiges Gelände ohne einen einzigen Baum, bewachsen mit Gras, ein langes Gras für Rinder. Balderi, eine schlanke 40-jährige Frau mit langen dunklen Haaren, sportlich gekleidet in Poloshirt, Jeans und Trekkingschuhen, sagt, dass dieses Land auch wieder in seinen natürlichen Zustand versetzt werden kann, wenn die Eigentümer dies wünschen. Grünland ist ökologisch praktisch tot.
Sie können den Unterschied auf der anderen Seite des Zauns sehen, auf der Seite von Balderi. Umgeben von mehreren Bäumen und blühenden Bougainvilleen liegt der Hauptsitz von Copaíba im Landesinneren des Bundesstaates São Paulo. Das ist die Nichtregierungsorganisation (NGO), die Balderi vor 25 Jahren mit seiner Schwester gründete, als sie beide Teenager waren. Die Idee war einfach: Pflanzen Sie Bäume in der fast kahlen Region, die von Vieh dominiert wird. „Viele Leute hielten uns damals für verrückt“, erinnert sich Balderi. „Was wir getan haben, war gegen das, was die Bauern dachten. Die Wälder sind für sie unproduktiv.“
Es ist die Mentalität, die noch heute im ländlichen Brasilien vorherrscht. Es wurde ein Problem für den Rest der Welt. Brasiliens Wälder sind nicht nur riesige CO2-Speicher, sie regulieren auch den Wasserhaushalt in Südamerika. Sie wirken wie riesige Wasserzirkulations- und -verteilungsmaschinen.
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Die Balderi-Schwestern widmen sich der Wiederaufforstung des Atlantischen Regenwaldes, des Atlantic Forest. Er ist weniger bekannt als der Amazonas-Regenwald, aber genauso wichtig wie ein Ökosystem. Es erstreckte sich einst mehrere tausend Kilometer entlang der Küste vom Nordosten Brasiliens bis nach Argentinien und Paraguay. Doch die Bevölkerung der Küstenregionen führte dazu, dass diese im Laufe der Geschichte zunehmend abgeholzt wurde. Vor allem die Holzindustrie, der Zuckerrohranbau, die Viehzucht und die Kaffeeproduktion haben zur Entwaldung beigetragen.
Jahrhundertelang galt dies als notwendig für den wirtschaftlichen Fortschritt. Eine Haltung, die Brasiliens rechtsextremer Präsident Jair Bolsonaro bis heute verkörpert. Während seiner Amtszeit erreichte die Entwaldung neue Rekorde, unter anderem im Atlantischen Regenwald. Allein zwischen 2020 und 2021 wurden fast 22.000 Hektar zerstört, eine Steigerung von 66 % gegenüber dem Vorjahr. Heute sind nur noch etwa 15 % seiner ursprünglichen Fläche in Brasilien.
Artenreiches Biotop
Umso überraschender ist es, dass der Atlantische Regenwald eines der artenreichsten Biotope der Welt geblieben ist, mit mehr als 200 Säugetierarten, Hunderten von Vogelarten, Reptilien und Amphibien. Rund 20.000 Pflanzenarten sind hier zu Hause. Und nach und nach wird den Menschen in Brasilien klar, dass diese Zerstörung einen hohen Preis hat: Wassermangel! „Denn wo es keine Bäume mehr gibt, fällt weniger Niederschlag und die Quellen versiegen“, sagt Flávia Balderi.
72 % der Brasilianer leben im oder um den Atlantischen Regenwald, 70 % des Bruttoinlandsprodukts werden hier erwirtschaftet. Die Voraussetzung dafür: Wasser – für den privaten Verbrauch ebenso wie für Industrie, Landwirtschaft und Energiegewinnung. Regnet es zu wenig, gehen in Brasilien buchstäblich die Lichter aus. „2014 und 2105 waren solche Jahre“, erinnert sich Flávia Balderi. “Monatelang hat es sehr wenig geregnet und der Wasserverbrauch musste in Küstenregionen rationiert werden.” Die Behörden befürchteten Unruhen.
Deshalb waren Flávia und Ana Paulo Balderi Hellseher, als sie 1999 in ihrer Heimatstadt, der Kleinstadt Socorro, zusammen mit Freunden 100 Setzlinge am Rio do Peixe pflanzten, einem Fluss, der schon immer schmutzig braun war. Von den Fischen, die der Fluss im Namen trägt, sei jedenfalls nichts zu sehen, sagt Flávia Balder. Der Grund: fehlender Baumbestand an den Ufern. Immer mehr Land wurde von kahlen Viehweiden in den Fluss geschwemmt. „Damals haben sich viele gefragt, was wir da eigentlich machen“, sagt Balderi. “Wir waren nur eine kleine Gruppe idealistischer Teenager ohne Geld und Infrastruktur.”
Heute zeugen zahlreiche Auszeichnungen vom Erfolg seiner Initiative. 2019 wurden Copaíba und seine 16 Mitarbeiter zur besten Umwelt-NGO Brasiliens gewählt. Bisher hat Copaíba rund eine Million Setzlinge von 130 verschiedenen Baumarten gepflanzt, die meisten davon in der Serra Mantiqueira, der Herkunftsregion von Balderis.
Rund 500 Hektar auf 200 Parzellen wurden auf diese Weise wieder aufgeforstet, hunderte Quellen sprudeln nun in den neuen Wäldern wieder. „Einige hartnäckige ältere Landbesitzer, die Erfolg sehen, kommen zu uns, weil ihnen das Wasser für ihr Vieh ausgeht“, sagt Balderi. Die Arbeit von Copaíba wird durch Spenden und Partnerschaften mit Unternehmen finanziert. Das Pflanzen und Pflegen eines Setzlings kostet umgerechnet vier Euro. Copaíba nimmt auch an öffentlichen Ausschreibungen teil.
Verantwortungsvolle Landwirte
Flávia Balderi überquert die Copaíba-Zentrale in der kleinen Stadt Monte Alegre do Sul. Herzstück ist ein großes Gewächshaus, in dem bereits 3,5 Millionen Setzlinge gezogen wurden. Auf etwa der Hälfte des Grundstücks wurde natürlich ein Wald angepflanzt. Es dient dazu, den Schülern die Natur näher zu bringen. Rund 30.000 Jugendliche haben es bereits besucht. “Brasilianische Schulen sind furchtbar theoretisch”, sagt Tatiana Terasin, verantwortlich für das Bildungsprogramm. „Hier kommen die Schüler in Kontakt mit der Natur. Unsere Arbeit wäre umsonst, wenn die Jungs nicht weitermachen.“
Das findet auch Marcos Massukado. Der Anwalt aus São Paulo kaufte für seine Familie eine alte Kaffeefarm als Landhaus und wandte sich an Copaíba. „Ich glaube, die Erde braucht Hilfe“, schreibt Massukado per E-Mail. Von den rund 160 Hektar Land, die er besitzt, will er die Hälfte bepflanzen und auf dem Rest weiter Kaffee anbauen. Die Aufforstung wird von Copaíba durchgeführt, finanziert von der Hamburger Firma Jungheinrich, die unter anderem Gabelstapler herstellt.
„Die Wiederaufforstung ist ein mehrphasiger Prozess“, erklärt Álvaro Guerreiro, einer der Aufforstungsspezialisten von Copaíba. Zunächst wird der Boden vorbereitet, zB wird Weidegras entfernt und es wird versucht, Blattschneiderameisen zu dezimieren, die junge Bäume in wenigen Stunden entblößen können. Es würde dann geeignete Baumarten finden und kleine Löcher graben, die mit Hydrogel, einem Dünger, gefüllt würden, bevor die Setzlinge eindrangen. Nach 30, 60 und 90 Tagen wurde die Entwicklung der Pflanzen überprüft.
Heute sind vier Männer der kleinen Firma auf dem Grundstück, die mit Copaíba bei den Pflanzarbeiten zusammenarbeiten. Maurilio Rodrigues arbeitete mit Pferden und auf Kaffeeplantagen. Dann wurde dem 32-Jährigen klar, dass man nicht nur mit der Landwirtschaft Geld verdient. Heute hat er drei Mitarbeiter, sie schleppen sich mit Gummistiefeln zur Aufforstung den Hang entlang, entfernen das aufgepflanzte Gras und düngen die Setzlinge. Murilio und sein junges Unternehmen sind ein Beispiel für das Umdenken, das Copaíba in die Region gebracht hat.
neue Grundstückseigentümer
Die Geschichte von Marcos Massukado zeigt aber auch, dass es vor allem die neuen Besitzer sind, die einen anderen Blick auf die Umwelt mitbringen. Der Tourismus spielt hier eine wichtige Rolle, zum Beispiel wenn alte Kaffeefarmen zu Hotels umgebaut werden. Denn Touristen wollen Bäume und Tiere sehen und keine kahlen Hügel.
Die Kaffeefarm von Luís Gonzaga aus dem 19. Jahrhundert befindet sich im malerischen Dorf Monte Alegre do Sul. Der 64-jährige ehemalige Ingenieur hat eine Leidenschaft: Vögel. Und so hat der Enkel italienischer Einwanderer mit Hilfe von Copaíba einen Teil seiner Farm wieder aufgeforstet. Jetzt bietet es Vogelbeobachtung an und hat Vogelbeobachter aus der ganzen Welt, von Japan bis Europa. Hier können Sie seltene Eulen und 18 verschiedene Kolibriarten sehen, von denen drei nur im Atlantischen Regenwald vorkommen.
Aber nicht nur die Vögel sind dank der Wiederaufforstung zurückgekehrt. Gonzaga stellte Kamerafallen in einem Waldgebiet auf und seltene Mähnenwölfe, ein Puma und große Wildkatzen kamen vor der Linse vorbei. „Ich mache das alles aus Liebe zur Natur und zum Wasser“, sagt Gonzaga. „Ich möchte, dass meine Kinder in einem intakten Atlantischen Regenwald aufwachsen und ich trage hier meinen kleinen Teil dazu bei.“